
2023 durfte ich in Gelterkinden, letztes Jahr in Anwil und Liestal und dieses Jahr in Wenslingen die 1. Augustrede halten. Für mich jedes Mal eine wunderschöne Gelegenheit, mir ein paar Gedanken zum Zusammenleben in der Schweiz zu machen…
Liebe Wenslingerinnen und Wenslinger, liebe Gäste
In dieser Wasserflasche hat es ziemlich genau eineinhalb Liter Wasser. Nicht besonders viel, oder? Und trotzdem – eine solche Flasche war in unseren Sommerferien unsere tägliche Ration Wasser zum Duschen, Waschen, Zähne putzen.
Zwei Wochen Sardinien: Warm, wunderschön, das Meer mit grossartigen Wellen – aber eben auch: Trockenheit. Wasserknappheit – und das, tagelang. Ja, wir haben improvisiert, die Haare mit einem Liter Wasser gewaschen, ganz auf das Duschen verzichtet und die Zähne mit einem Schluck Wasser geputzt. Sie können mir glauben, uns allen wurde einmal mehr bewusst, wie unglaublich verwöhnt wir hier in der Schweiz sind, wie es für uns selbstverständlich ist, dass wir genügend Wasser haben. Frisch, sauber – immer.
Was für ein Privileg! Aber: Sind wir uns dessen auch bewusst?
Ich möchte heute ein paar Gedanken mit ihnen zu «Selbstverständlichkeit» und «Dankbarkeit» teilen – weil ich glaube, dass wir manchmal vergessen, wie gut es uns geht, wir Sachen für selbstverständlich nehmen und uns nicht bewusst sind, dass so vieles von dem, was wir als alltäglich erleben, an anderen Orten auf dieser Welt purer Luxus ist. Und weil ich glaube, dass es gut ist, wenn wir immer wieder einmal innehalten und uns bewusst werden, wie viel Grund für Dankbarkeit wir haben. Gerade in diesem Land, gerade in der Schweiz.
(…)
Lassen Sie uns zurückblicken – auch wenn wir wissen, dass die Geschichte vom Rütlischwur, von Uri, Schwyz und Unterwalden eine Legende und nicht eine historische Geschichtsschreibung ist. Weil auch so ist die Story der drei Männern, die sich gegenseitig Beistand geschworen haben, ein starkes Bild für unser Land – und für das, was die Schweiz von heute ausmacht.
Der Rütlischwur war kein Ausdruck heroischer Heldentaten, sondern ein demütiger Schritt von drei Talschaften, die sich bewusst wurden, dass es miteinander besser geht, als wenn jeder für sich alleine schaut. Es ist die Geschichte einer Gemeinschaft, die aus der Not entstanden ist, die Geschichte von Menschen, die sich bewusst wurden, dass der Erfolg darin liegt, das Trennende zu überwinden und das Verbindende zu betonen. Und deshalb konnten sich die drei Männer gegenseitig schwören, dass sie «ein einzig Volk sein, und sie sich bei Not oder Gefahr nie voneinander trennen wollen.“
Glauben Sie mir: die drei Männer, die drei Talschaften taten dies nicht, weil sie sich besonders sympathisch fanden oder weil sie in allem die gleiche Meinung hatten. Nein, ganz sicher nicht. Vielmehr haben sie sich dafür entschieden, eine gemeinsame Grundlage zu schaffen, weil sie verstanden haben, dass sie Probleme und Herausforderungen trotz oder eben gerade wegen bestehenden Unterschieden gemeinsam besser lösen können.
Und ja, vielleicht ist das der wahre Ursprung und die wirkliche Kraft unserer Schweiz: Es ging nicht um Herkunft. Damals 1291 nicht und heute auch nicht. Sondern es ging damals und geht heute um die Frage, wie es uns gelingt, trotz Unterschiedlichkeit, miteinander unsere Gesellschaft vorwärts zu bringen: Ob wir bereit sind, das Gemeinsame zu suchen, weil wir davon überzeugt sind, dass im Miteinander die Grundlage für den Erfolg liegt – und nicht im Bewirtschaften von Spaltung und Trennung. Weil wir überzeugt sind, dass es Zuversicht und Gemeinsinn braucht, Ideen und auch mal eine Vision – und nicht eine Kultur des ewigen Kritisierens und Nörgelns.
Das, was unser Land ausmacht, die Vielfalt, die Stabilität, die Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Parteienvielfalt – aber auch die Stärke der Vereine, Organisationen und Institutionen – basiert auf Werten, die in unserer Welt zunehmend unter Druck kommen. Werte, die wir in der Schweiz als alltäglich erleben, für die in anderen Ländern Menschen bereit sind, ins Gefängnis zu gehen oder ihr Leben zu lassen – weil dort ein paar wenige beschlossen haben, den Staat zu einem Selbstbedienungsladen der Mächtigen umbzubauen.
Ja, die Werte unserer Gesellschaft, das was unser Land erfolgreich gemacht hat, ist wie das Trinkwasser: Bei uns scheinbar selbstverständlich – aber eigentlich ein Luxus, für den wir dankbar sein sollten und für den es sich lohnt, sich zu engagieren.
Und dafür, braucht es uns alle!
Indem wir uns für Ideen engagieren statt für eine Kultur der Kritik.
Indem wir auch mal grosse Ziele konsequent verfolgen und damit zum Ausdruck bringen, dass der heutige Wohlstand nicht das Ergebnis meiner eigenen Leistung ist, sondern das Resultat von dem, was meine Vorfahren geleistet haben. Und ich damit auch die Verpflichtung wahrnehme, die Zukunft zu gestalten und mich dafür zu engagieren, dass dieses Land auch für die kommenden Generationen ein solch einzigartiger Ort bleiben darf.
Indem wir uns für das Gemeinwohl engagieren statt dem Individualismus verfallen.
Und indem wir die Bereitschaft für Diskussion, Auseinandersetzung, vielleicht auch mal Streit haben. Weil, wenn es uns gelingt, die Debatte mit Respekt, und in Wertschätzung vom Gegenüber zu führen, wenn wir bereit sind, uns mit unterschiedlichen Meinungen und Haltungen auseinanderzusetzen, dann ist das die Basis, damit etwas Gemeinsames, Neues, Kraftvolles entstehen kann.
Liebe Gäste: Dass Sie heute hier sind, und nicht zu Hause für sich alleine den Abend verbringen, ist eine wunderbare Gelegenheit. Nutzen wir die Begegnungen für Gespräche und Diskussionen. Lernen wir Neues kennen, aus dem Leben des Gegenübers, über die Art und Weise, wie man die Welt auch noch sehen kann. Hören wir zu – und nutzen wir genau so die Möglichkeit, die eigenen Haltungen und Meinungen ehrlich zu sagen.
Und ja, lassen Sie uns bewusst werden, dass das, was wir haben, nicht selbstverständlich ist. Sondern Grund für Dankbarkeit – damit wir nicht eines Tages aufwachen und merken, dass wir es verloren haben.
Lassen Sie uns lernen, wieder zu staunen – zum Beispiel auch über das Wasser, das be uns jeden Tag fliesst.
Aber eben auch über eine Gesellschaft, die diskutiert – ohne dass sie sich zerreissen lässt.
Über ein Land, das trotz aller Unterschiede immer wieder Wege miteinander findet.
Lassen Sie uns aus der Erkenntnis, dass nichts selbstverständlich ist, eine neue Dankbarkeit entdecken. Und lassen Sie die Dankbarkeit unser Ansporn sein, uns für unseren Nächsten, für die Gesellschaft, für die Schweiz von Morgen zu engagieren. Im Kleinen wie im Grossen. Sei es in der Familie, in der Nachbarschaft, beim Job, im Verein, in der Politik.
Weil nichts ist selbstverständlich. Nicht mal das Wasser. Sondern ein Grund für Dankbarkeit.