Ein Moment des Glücks

Für Birsfeldens litera­rische Vorweih­nacht 2023 durfte ich – wie übrigens auch Franz Hohler und 20 weitere Schreiberlinge – eine Geschichte zu Weihnachten schreiben. Die weiteren Geschichten sind hier zu finden: https://www.birsfelden.ch/…/Literarische-Vorweihnacht…

Ein Moment des Glücks

Dezember. Vorweihnachtsstimmung. Überall. Einmal mehr. Ich schlendere mit meiner jüngsten Tochter durch die Strassen. Der Duft von Weihnachtsgutzi liegt in der Luft, die Strassenmusikanten lassen Weihnachtslieder erklingen. Viele Menschen. Lachend, plaudernd, manchmal hetzend, manchmal gemütlich unterwegs. Und einmal mehr frage ich mich, wofür Weihnachten in unserer heutigen Zeit noch steht…

Mitten im Gewusel der Menschen kniet eine Frau am Boden mit einem Becher in der Hand. Eine Bettlerin. Und schon kommt es wieder: dieses bedrückende Gefühl – das Wissen, dass auf dieser Welt so viele Menschen in Not und Elend leben. Geächtet, verfolgt, verschleppt, getötet. Hunger, Krieg. Und hier kniet sie, diese Frau, in grauen Kleidern, mit ein paar wenigen Münzen in ihrem Becher. Mache ich einen Bogen um die Frau? Lege ich eine Münze in ihren Becher? Das mir bekannte Schuldgefühl kommt wieder hoch – einmal mehr. Wie kann es sein, dass der Reichtum so ungleich verteilt ist?

Mitten in meinen Gedanken spüre ich, wie meine Tochter meine Hand drückt. Ich schaue sie an, während sie die zuvor gekauften Weihnachtsgutzi aus meiner Tasche zieht. Statt sich selbst eines davon zu nehmen, geht sie auf die Frau zu, beugt sich zu ihr und bietet ihr ein Weihnachtsgutzi an. Die Frau schaut auf, meiner Tochter in die Augen. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht, ihre Blicke treffen sich, und die Frau nimmt eines der Weihnachtsgutzi. Meine Tochter setzt sich neben die Frau – ganz still. Ich blicke mit kleinem Abstand berührt auf die Szenerie, sehe die beiden Frauen, nebeneinandersitzend, je mit einem Weihnachtsgutzi in der Hand. Ein Moment des Glücks. Ein Moment der Freude. Ein Moment des Verstandenseins. Beide. Ohne Worte. Denn vermutlich sprechen die beiden nicht die gleiche Sprache – aber das braucht es auch nicht. Die Herzen haben sich schon lange gefunden – in der Sprache der Nächstenliebe – dafür braucht es oft keine Worte. Dafür steht Weihnachten!

Jesus spricht: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“

(Matthäusevangelium, Kapitel 25, Vers 40)

© 2024 Thomi Jourdan